DIMITRI CHRISSOMALLIS           
HEILPRAKTIKER FÜR PSYCHOTHERAPIE

HOCHSENSIBILITÄT

Von Dimitri Chrissomallis
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© Urheberrecht. Alle Rechte vorbehalten.
(Stand 19.02.2023)

 

01. VORWORT

Diese sensiblen Persönlichkeiten fühlen sich häufig von ihrer Mitwelt auch unverstanden und in der Tat führen sie auch unter dem ärztlichen Aspekt, wenn man es so sagen darf, ein etwas vernachlässigtes Eigenleben zwischen dem Bereich der Normalpsychologie und dem Bereich der Psychopathologie. Denn ihre Verhaltensweisen überschreiten auf der einen Seite häufig den Rahmen des psychologisch Verstehbaren, auf der anderen Seite erreichen sie noch nicht die volle „Würde“ einer psychiatrischen Etikettierung. Sie sind daher zu Recht oft etwas steuerlos und hilflos und suchen nach Verständnis, nach Erklärbarkeit und letztlich auch nach therapeutischen Ratschlägen.“

Professor Dr. Wolfgang Klages
Vorstand der Abteilung Psychiatrie der Medizinischen Fakultät an der Technischen Hochschule Aachen
Der sensible Mensch      (1978, Enke Verlag)

Auch wenn dieses Zitat aus der Einleitung seines Buches zunächst etwas pessimistisch klingt, so beschreibt Dr. Klages Hochsensibilität im Verlauf seines Buches sehr positiv. Seine Absicht war es sicherlich, die damalige Fachwelt zu überzeugen, dass Hochsensibilität ein reales Phänomen ist, und sie dabei in der Sprache der Zeit abzuholen. Deutlich wird in dem Zitat jedenfalls, dass sich Hochsensible in ihrem Erleben und oft auch in ihrem Verhalten von ihren normalsensiblen Mitmenschen in einigen Merkmalen offenkundig unterscheiden.

Medial ist Hochsensibilität heute so präsent wie umstritten. Für die Hochsensiblen selbst ist es ein plausibles und Identität stiftendes Erklärungsmodell des eigenen Erlebens. Kritische Stimmen vermuten hingegen, dass angebliche Hochsensible damit nur eigene Unzulänglichkeiten rechtfertigen wollen. Die Kontroverse zeigt, dass Hochsensible sich das ihnen oft entgegengebrachte Unverständnis nicht einbilden. Dies verstärkt ihre Gefühle der wahrgenommenen Andersartigkeit positiv wie negativ. Einerseits schätzen ihre Mitmenschen ihre außergewöhnlichen Talente und Fähigkeiten, wollen aber andererseits die Aspekte, die sie für Nachteile und Schwächen halten nicht wahrnehmen. Dabei übersehen sie, dass beide Aspekte Teil desselben Phänomens sind und man das eine nicht ohne das andere haben kann. Bei den Hochsensiblen kann dies Minoritätenstress und Gefühle der Nichtpassung hervorrufen.

Darüber, was Hochsensibilität nun tatsächlich ist und wie sie sich äußert, gibt es viele Meinungen. Ist sie eine Superkraft oder eine pathologische Beeinträchtigung? Worin ähneln sich Hochsensible und worin unterscheiden sie sich? Im Folgenden werde ich für hochsensible Menschen und interessierte Personen wichtige Informationen zusammenstellen und versuchen, diese Fragen zu beantworten. Es ist mir dabei ein wichtiges Anliegen, einen möglichst differenzierten Blick auf das Thema zu werfen, damit sich auch die vielen Hochsensiblen darin wiedererkennen können, die sich von der klischeehaften Darstellung in den (sozialen) Medien zum Teil deutlich unterscheiden. 

Möglicherweise haben auch Sie meine Webseite gefunden und lesen diese Worte, weil Sie über Ihre eigenen Wahrnehmungen und Befindlichkeiten etwas verwundert oder besorgt sind oder von Personen in Ihrem Umfeld Rückmeldungen erhalten, die Sie nachdenklich machen? Suchen Sie darum, wie Professor Dr. Wolfgang Klages schrieb, therapeutische Ratschläge oder einfach nur Beratung? Vielleicht sind Sie dem Konstrukt Hochsensibilität begegnet und möchten mehr darüber erfahren, da Sie sich auch ohne persönlichen Leidensdruck oder eine nahe stehende Person darin wiedererkennen? Oder sind Sie nur allgemein am Thema interessiert? Dieser Text soll Ihnen bedürfnisindividuell mit umfassenden Infos zur Seite stehen.

 

02. WAS IST HOCHSENSIBILITÄT?

Hochsensibilität ist ein Temperamentsmerkmal oder auch Trait. Unter Temperament versteht man alle angeborenen Anteile der Persönlichkeit. Traits sind weder gut noch schlecht, sondern neutrale biologische Eigenschaften.

Das Trait Hochsensibilität bringt in Menschen und Tieren einen komplexeren und reaktiveren Aufbau des Nervensystems hervor, als in normalsensiblen Individuen. Dieses wirkt dabei wie ein Verstärker für Reize. Das Wahrnehmungsspektrum und der Wohlfühlbereich hochsensibler Personen werden dadurch verschoben. Sie nehmen feine Reize besser oder überhaupt erst wahr, für die weniger sensible Menschen deutlich stärkere Auslöser bräuchten. Reize mittlerer Stärke werden eher als intensiv erlebt, starke Reize können mitunter Überreaktionen auslösen.

Hochsensible Personen nehmen also durchschnittlich mehr Reize wahr, erleben diese intensiver und zeigen stärkere Reaktionen darauf. Je nach Situation kann sich das vorteilhaft oder nachteilig auswirken. Es erhöht beispielsweise die Wahrscheinlichkeit guter oder besonderer Leistungen in Bereichen der kognitiven, der intra- oder interpersonalen (auch emotionalen), der sprachlichen und auch der musisch-künstlerischen Intelligenz. Andererseits können die vielen wahrgenommenen Reize und deren Verarbeitung, sowie das Regulieren der eigenen intensiven Gefühlszustände eine hochsensible Person auch schneller mental erschöpfen und gelegentlich zu Zuständen von Überreizung führen, die man als Überstimuliertheit bezeichnet.

 

03. ELAINE ARON UND ANDERE VORDENKER DER HOCHSENSIBILITÄT 

Die Theorie rund um das Thema Hochsensibilität ist ein psychologisches Konstrukt. So nennt man ein Erklärungsmodell, das einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Beobachtungen vermutet und diese in einem Konzept umfasst. Weitere Forschung kann dies dann präzisieren oder widerlegen. 
Wie Hochsensibilität aktuell verstanden wird, geht maßgeblich auf das Konstrukt der amerikanischen Psychologin und Forscherin Elaine Aron zurück, die in den 1990-er Jahre erstmals Forschung zu dem Thema veröffentlichte. 
Schon vor Aron haben aber aufmerksame Personen diese Eigenschaft an Menschen beobachtet und beschrieben. Ende der 1970-er Jahre veröffentlichte z.B. der deutsche Psychiater Dr. Wolfgang Klages sein Buch „Der sensible Mensch“, in welchem er das Konstrukt vorwegnimmt und die Eigenschaften hochsensibler Personen schon sehr treffend beschreibt. Das Buch ist aber vor allem im deutschen Sprachraum bekannt. 
Auch Jerome Kagan, Experte der Temperamentsforschung, oder Carl Gustav Jung, Vater der Psychoanalyse, gelten als wichtige Vordenker. 

 

04. BEGRIFFE UM HOCHSENSIBILITÄT

Elaine Aron prägte den Begriff Hochsensibilität (engl.: High Sensitivity). Menschen mit diesem neurophysiologischen Merkmal bezeichnete sie als Highly Sensitive Person (deutsch: Hochsensitive oder Hochsensible Person), allgemein abgekürzt als HSP. Das Kürzel steht ausdrücklich nur für die Personen. Viele Menschen verwenden es fälschlicherweise auch für das Trait selbst. 
Wenn das Merkmal gemeint ist, spricht man auf Deutsch von HS (für Hochsensibilität) oder international von SPS. Die Abkürzung steht für Sensory Processing Sensitivity (deutsch: Sensorische Verarbeitungssensitivität) und ist der wissenschaftliche Name der Hochsensibilität.

Der Begriff High Sensitivity ist im anglo-amerikanischen Sprachraum so umstritten, wie Hochsensibilität im Deutschen. Hier wie dort werden die Begriffe nämlich im Alltag oft mit emotionaler Labilität und vulnerabler Empfindlichkeit gleichgesetzt, was nicht nur dem Phänomen nicht gerecht wird, sondern hochsensible Personen auch diskriminiert und pathologisiert. Darum diskutieren Laien und Fachwelt in der hochsensiblen Community z.B. in sozialen Medien alternative Namen, wie „Hochsensitivität“, „Neurosensitivität" oder „Neuroreaktivität“. Im weiteren Verlauf des Textes werden verschiedene Begriffe synonym verwendet. 

 

05. D.O.E.S. UND TYPISCHE EIGENSCHAFTEN HOCHSENSIBLER PERSONEN

Zur Beschreibung der Hauptmerkmale von Hochsensibilität führte Aron das Akronym „D.O.E.S.“ ein.

D steht für Depth of Processing (deutsch: Verarbeitungstiefe) und meint die allgemeine Neigung, Reize intensiver zu verarbeiten. Gemeint sind sowohl positive, als auch negative Reize und solche, die aus der Umgebung auf uns einwirken, sowie die aus unserer Innenwahrnehmung. Sie können unbewusst auf neuronaler Ebene passieren, was sich dann in Stimmungen niederschlägt, als auch in bewussten Denk- und Fühlprozessen. Gedanken werden länger abgewogen und Erlebnisse und Gefühle hallen länger nach. Depth of Processing ist das Hauptmerkmal von Hochsensitivität. Die folgenden drei Merkmale resultieren daraus.

O steht für Overstimulation (deutsch: Überstimuliertheit) und ist der einzige unangenehme Aspekt der Hochsensibilität. Die neuronale Verarbeitung und Regulation von Umgebungsreizen und Emotionen, kostet uns symbolisch gesprochen jedes Mal einen kleinen Energiebetrag, der unser Energiekonto negativ belastet. Häufen sich die Negativbeträge an, muss dies regelmäßig durch Erholung ausgeglichen werden (Mittagspause, Nachtschlaf etc.). Bleibt das aus und wird ein kritischer Wert erreicht, kann dies in eine unangenehme Überstimuliertheit münden. Wie, wie intensiv und wie lange sich diese äußert ist individuell sehr verschieden. Funktionales Handeln kann aber erschwert oder sogar verunmöglicht sein. HSP erreichen diese Schwelle oft früher als normal sensitive Menschen, die dann vielleicht mit Unverständnis reagieren. „Stell Dich nicht so an!“ ist ein Satz, den viele HSP im Leben oft gehört haben und mit dem man ihrem Selbstwert zugesetzt hat. Im Alltag kann man der Überstimuliertheit aber mit guten Strategien oft leicht entgegenwirken. 
E steht für Emotional Responsiveness (deutsch: Emotionale Reaktionsneigung) oder auch Empathy (deutsch: Empathie). Geht ein Sinnesreiz im Gehirn ein, wird seine Bedeutung für uns bewertet. Das geschieht u.a. durch Gefühlsintensität. Ist das Gefühl stark, ist der Reiz für uns wichtig. Da Hochsensible mehr und feinere Reize wahrnehmen, bedeutet das im Ergebnis auch ein erhöhtes Gefühlsaufkommen und höhere Gefühlsintensität. 
Da auch sehr feine Gemütsausdrücke und Befindlichkeiten anderer Menschen oder von Tieren wahrnehmbare Reize sind, die bei HSP Gefühle und Mitgefühle auslösen, sind sie oft sehr empathisch. Nicht selten sind sie darum auch in helfenden, beratenden und heilenden Berufen zu finden. 

S steht für Subtle Stimuli (deutsch: feine Reize). Dies betont noch einmal die stark ausgeprägte Feinwahrnehmung von Reizen aller Art, sowohl sensorische Umgebungsreize, als auch Reaktionen auf Befindlichkeiten anderer, sowie auch die eigene körperliche und psychisch-emotionale Innenwahrnehmung.

Neben den vier Hauptmerkmalen beschreiben Aron und andere Experten weitere bei HSP häufig anzutreffende persönliche Eigenschaften. Dazu zählen z.B. ein auffallend häufiger Hang zu Spiritualität, ein „reiches inneres Erleben“ mit viel Phantasie und Kreativität und eine daraus resultierende Neigung zu entsprechender Betätigung, intensives Erleben von Schönheit in Natur, Kunst und Musik, ein starkes Gerechtigkeitsempfinden, ein starkes soziales Gewissen und gute Teamfähigkeiten. 
Wegen ihrer musischen und kreativen Talente ergreifen viele HSP künstlerische Berufe. Andere hätten das Potential dazu, meiden aber das Rampenlicht, da sie tendenziell nicht gerne im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Schon als Kind versuchen viele HSP „unter dem Radar“ zu bleiben. Eine Neigung zu Prüfungsstress ist zudem sehr verbreitet. Weiterhin sind hohe Planungsfähigkeit und Gewissenhaftigkeit bis hin zum Perfektionismus anzutreffen. 
Dr. Klages weist zudem darauf hin, dass in seiner Wahrnehmung Hochsensible oft über eine Synästhesie verfügen. Über dieses neurophysiologische Phänomen informiere ich an anderer Stelle auf dieser Webseite. Die Aufzählung ist natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Besonders kennzeichnend ist laut Aron auch die Lernstrategie des pause-to-check (deutsch: innehalten zur Überprüfung) im Gegensatz zum trial-and-error (deutsch: Versuch und Irrtum). Während viele Personen neue Dinge gerne „einfach mal ausprobieren“, nehmen HSP oft zunächst eine beobachtende Haltung ein. Sie wollen die Lerninhalte lieber erst einmal mental simulieren und für sich bewerten. Erst wenn die Aktion für ausreichend sicher befunden und eine genügend starke mentale Vorstellung davon geschaffen wurde, wie es sich wahrscheinlich anfühlen und wie der ungefähre Ablauf sein wird, fühlen sich HSP wohl und bereit, zur Tat zu schreiten.

Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf Elaine Arons Webseite www.hsperson.com.

 

06. WIE FUNKTIONIERT HOCHSENSIBILITÄT PHYSIOLOGISCH?

HSP haben keine besseren Sinnesorgane. Sie können genauso Brillen und Hörgeräte tragen, wie andere auch. Die gesteigerte Reizwahrnehmung findet im Nervensystem statt. Darüber, wie sie physiologisch genau funktioniert, kann noch nicht viel verbindlich gesagt werden, weil die Forschung dazu noch sehr jung ist. Zu einzelnen Mechanismen gibt es aber schon vielversprechend plausible Theorien. Dabei geht es z.B. um die Beschaffenheit einiger Neurotransmitter (Botenstoffe zur Reizweiterleitung in den Nervenzellen), die Funktion und die Erregbarkeit bestimmter Hirnareale und die Anzahl der Neuronen (Nervenzellen) im Gehirn oder nur in bestimmten Hirnregionen. Etwas ausführlicher dargestellt werden soll hier beispielhaft die Thalamus-Hypothese, weil sie Hochsensibilität meiner Meinung nach insgesamt am besten beschreibt.

Der Thalamus ist ein Hirnareal, welches auch „Tor zum Bewusstsein“ genannt wird. Wahrnehmungsreize aus den Sinnesorganen gehen hier ein und werden gefiltert. „Wichtige“ Reize werden in höhere Hirnareale zur bewussten Weiterverarbeitung durchgelassen, „unwichtige“ werden ausgefiltert und bleiben unbewusst, was Energie spart. Müsste unser Gehirn alle Umgebungsreize bewusst verarbeiten, wären wir sicherlich überfordert und bis zur Handlungsunfähigkeit blockiert. So lesen Sie z.B. gerade diese Worte und nehmen dabei viele andere Objekte in ihrem Sehfeld gar nicht wahr, obwohl die Lichtwellen, die von diesen Objekten reflektiert werden, physikalisch sehr wohl Ihr Auge erreichen. Lassen Sie Ihre Augen auf diesen Text gerichtet und scannen Sie dabei Ihre Umgebung. Vielleicht wird Ihnen nun bewusst, was Sie vorher beim Lesen alles hätten wahrnehmen können, Ihnen aber unbewusst geblieben ist. Auch viele andere Sinnesreize haben Sie in dieser Zeit nicht wahrgenommen: Geräusche, taktile Eindrücke wie das Gefühl der Sitzfläche oder des Bodens unter Ihnen oder das Gefühl von Kleidung auf Ihrer Haut. Was haben Sie zudem in dieser Zeit alles nicht gerochen? Stellen Sie sich vor, Ihr Gehirn müsste all diese Eindrücke immer konstant verarbeiten! Sie wären sicherlich maximal überfordert. Sie können so an sich selbst erleben, wie Reizfilterung im Gehirn funktioniert und warum sie wichtig ist. 

Es wird vermutet, dass der Thalamus bei HSP toleranter ist, dadurch mehr Reize als „wichtig“ klassifiziert und ins Bewusstsein gelangen lässt. Hochsensible nehmen darum mutmaßlich in jedem Augenblick mehr wahr als andere Menschen. Das hat viele offenkundige Vorteile. Manche HSP haben dabei eine derart feine Wahrnehmung, dass sie bei Menschen in ihrem Umfeld Unglauben auslösen, weil sie die Reize nicht nachvollziehen können. Meist sind diese jedoch auch für andere wahrnehmbar, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden, passieren aber bei HSP leichter die thalamische Bewusstseinsschwelle. Entwickelt sich z.B. ein Brandgeruch, wird wahrscheinlich zuerst die hochsensible Person darauf hinweisen. Andere Anwesende werden den Rauch dann auch wahrnehmen und zustimmen können. Es kann sich genauso auch um den entscheidenden Zahlendreher in einer Bilanztabelle handeln, der von mehreren Personen konsequent übersehen wurde, bis die HSP ihn aufdeckt. Wie inzwischen mehrfach erwähnt, kann die erhöhte Wahrnehmung aber auch leichter zu mentaler Erschöpfung und Überstimuliertheit führen. Je nach Blickwinkel oder Situation kann man Hochsensibilität also als Wahrnehmungsbegabung oder Reizfilterschwäche verstehen.

 

07. FEINWAHRNEHMUNG UND INTUITION

Viele hochsensible Personen berichten von einem intensiven Gebrauch ihrer Intuition und einer starken Verbundenheit mit ihr. Oft sehen sie diese auch in einem spirituellen Zusammenhang. Was Intuition jedoch genau ist, ist nicht abschließend geklärt. Es gibt verschiedene Definitionen, denen ich mehr oder weniger zustimmen kann. Ich unternehme hier den Versuch einer eigenen Beschreibung, bei der ich keinerlei Anspruch auf Wahrheit erhebe. 
Ich betrachte Intuition als den Zugang zu Sinnesreizen im vorbewussten und unbewussten Zustand. Die Reize sind schon im Gehirn eingegangen und haben bereits eine Repräsentanz in Gedächtnisstrukturen. Die Bewusstseinsschwelle haben sie aber entweder nicht erreicht, oder wurden wieder vergessen, dabei aber nicht vollständig aus der Erinnerung gelöscht. Der Mustererkennung und dem Erinnerungsabgleich einer Person stehen sie aber in diesem Zustand zur Verfügung. Gehen nun neue Informationen im Gehirn ein und gleichen wir diese mit unserem Gedächtnis ab, so werden auch diese unbewussten und vorbewussten Inhalte herangezogen und verhelfen uns zu Erkenntnissen und Schlussfolgerungen, ohne dass wir anderen oder auch uns selbst Auskunft darüber geben könnten, weshalb und warum. Menschen mit starken intuitiven Fähigkeiten scheinen also manchmal einfach Wissen über Menschen, Orte oder Ereignisse aus dem Äther zu ziehen. 

Die Feinwahrnehmung hochsensitiver Personen, die sie mehr Dinge bewusst und unbewusst wahrnehmen und verarbeiten lässt, sorgt hier möglicherweise für einen größeren Vorrat an unbewussten und vorbewussten Inhalten. Da auch diese im Gehirn „groß gerechnet“ werden, nehmen HSP diese offenbar durchschnittlich auch besser wahr, was zu gesteigerter Intuition zu führen scheint. Weiterhin habe ich den Eindruck, dass HSP auch einen leichteren Zugang zu diesem Graubereich haben, in welchem Informationen aus dem Unbewussten in vorbewusste Zustände schwappen. Sie bieten sich dem Bewusstsein an oder drängen ihm sich als Vorahnungen auf. Es ist, als würden die Antennen ihres Bewusstseins tiefer ins Unbewusste hinabreichen, als würden bei ihnen mehr Hände im trübem Wasser nach Muscheln tasten und darum auch eher fündig werden. Eine gute Intuition ist eine großartige Sache. Dennoch sind auch Hochsensible gegen Fehlschlüsse durch falsche Erinnerungen und Projektionen nicht gefeit und es ist wichtig für sie, einen reflektierten und reifen Umgang mit ihrer Intuition zu finden.

 

08. SENSORY PROCESSING SENSITIVITY (SPS), EVOLUTION UND DIE FORSCHUNG

Hochsensibilität ist ein populärwissenschaftlicher Begriff. In der offiziellen Forschung spricht man von Sensory Processing Sensitivity (SPS) (deutsch: Sensorische Verarbeitungssensitivität). Inzwischen gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien zum Thema. Besonders spannend sind auch die Tierstudien, die Hochsensibilität in inzwischen über 100 Spezies nachgewiesen haben. Darunter befinden sich, neben Primaten und vielen anderen Säugetieren, auch Fischarten und den in der Forschung unerlässlichen Fruchtfliegen. Hochsensibilität scheint also Teil eines evolutionsbiologischen Phänomens von mindestens zwei verschiedenen Überlebensstrategien zu sein. Tritt eine Krise in einer Population auf, in der die Überlebensstrategie der einen Gruppe nicht mehr erfolgreich ist, so gibt es eine genügend große Gruppe mit einer alternativen Strategie, die dann möglicherweise erfolgreich sein kann und das Überleben der Spezies als Ganzes vorerst sichert, bis die Population sich erholt hat. Das Forscherteam um den Entwicklungspsychologen Michael Pluess hat sogar das Vorhandensein von drei klar unterscheidbaren Sensitivitätstypen bei Menschen nachgewiesen. Sie sprechen von Personen mit High, Medium und Low Sensitivity.

Da die meisten Menschen keinen Zugang zu einem akademischen Netzwerk haben, veröffentlichen Pluess und andere der führenden Forschenden zum Thema ihre Arbeit in möglichst verständlicher Sprache auf der Webseite www.sensitivityresearch.com.

 

09. „VANTAGE SENSITIVITY“ UND „VULNERABLE SENSITIVITY“

Hochsensibilität kann man sich einfach ausgedrückt wie einen neuronalen Verstärker vorstellen. Negative Reize bringen bei HSP also stärkere negative Gefühle hervor, positive Reize aber eben auch intensivere Glücksgefühle. Wie eine Person nun die Lebensqualität der eigenen neurosensitiven Identität erlebt, hängt stark davon ab, ob im Leben mehr die positiven oder die negativen Aspekte überwiegen bzw. welche Art von Erfahrungen aus ihrer Kindheit sie bis heute maßgeblich prägen. Die meisten HSP, die ich kenne oder in Interviews gehört habe, bekräftigen, dass sie trotz der Zustände von Überstimuliertheit ihre Hochsensibilität nicht eintauschen würden, wenn es möglich wäre. Zu sehr würden sie die Glücksmomente, die ihnen ihr intensives Erleben auf allen Sinneskanälen bereitet, ihre kognitiven Fähigkeiten und ihre Feinwahrnehmung vermissen. Sie verfügen über genügend Erfahrung mit sich selbst und ausreichend Strategien, um Überstimuliertheit zu regulieren und sie im besten Falle gar nicht erst aufkommen zu lassen, so dass diese im Alltag kaum noch ein Thema ist. Vielleicht hatten sie zudem noch ein gutes Händchen, sich ein zu ihrer neuronalen Konstitution passendes persönliches Umfeld zu schaffen. Das beinhaltet z.B. eine gute Wohnsituation, einen angenehmen Arbeitsplatz, einen verständnisvollen und sensiblen Freundeskreis und die gewünschte Art der Lebenspartnerschaft.

Aber nicht zu jeder Zeit können Menschen alles beeinflussen, was ihnen widerfährt. Vielleicht tragen sie Erinnerungen an leidvolle Erlebnisse aus Kindheit und Jugend in sich. Manchmal ist man gezwungen, sich auch mit ungünstigen Lebensumständen zu arrangieren. Das ist für niemanden schön, wirkt aber auf HSP besonders schwer und kann im gegenwärtigen Erleben einen großen Leidensdruck erzeugen. 

Es ist also individuell sehr verschieden, in welchem Ausmaß in einer hochsensitiven Person mehr die positiven oder negativen Auswirkungen der Hochsensitivität zu Tage treten. Stehen eher die Vorteile im Vordergrund, spricht man von Vantage Sensitivity (deutsch: Vorteilssensitivität). Ist das Erleben einer Person mehr von Überreizungs- und Erschöpfungszuständen geprägt und erlebt sie dieses subjektiv als belastend, spricht man von Vulnerable Sensitivity (deutsch: vulnerable oder verletzliche Sensibilität). Fachleute wie Elaine Aron und Michael Pluess gehen davon aus, dass Personen mit vulnerabler Sensitivität fast immer durch schlimme Kindheitserfahrungen geprägt wurden, während jene mit Vantage Sensitivity eine ihrem Temperament zumindest adäquate Erziehung hatten. Es bleibt, die hoffnungsvolle Nachricht zu wiederholen, dass HSP auf positive Impulse und therapeutische Interventionen besonders gut ansprechen und davon profitieren, was Anlass zu Optimismus gibt, dass der Leidensdruck hier verringert werden kann. 

 

10. WIEVIELE MENSCHEN SIND HOCHSENSIBEL?

Die Schätzungen, wie viele Menschen hochsensibel sind, gehen weit auseinander. Während Elaine Aron von 15% bis 20% ausgeht, nehmen andere eher 5% an. Die Forschungen des Teams um den Entwicklungspsychologen Michael Pluess haben jedoch ungefähr 30% ausgemacht. Ich vermute, dass sich die Unterschiede daraus erklären, wie verschiedene Personen Hochsensitivität definieren, diese messen oder in ihrer Umgebung wahrnehmen. 
Therapeut:innen haben es in ihrer Arbeit vor allem mit vulnerablen HSP zu tun. Diese sind aber natürlich nur eine Teilgruppe. Wenn man jedoch vantage-sensitive HSP nicht mitzählt, weil man Hochsensitivität mit vulnerabler Sensitivität gleichsetzt, verzerrt das eigene Bild von Hochsensibilität natürlich auch die Zahlen. Zudem bekräftigt dies öffentlich leider auch das verkürzte Narrativ, dass es sich bei Hochsensitivität um einen Zustand von allgemeiner Labilität und Schwäche handelt. Das ist wenig hilfreich, wenn ein differenziertes Bild der Hochsensitivität vermittelt werden soll. 
Kinder und Jugendliche, welche sich als die einzigen erlebt haben, die Unruhe im Klassenzimmer oder Lautstärke auf Partys schlecht ertrugen, könnten als Erwachsene ebenfalls annehmen, dass Hochsensible viel seltener sind, als dies tatsächlich der Fall ist.

Die Zahlen ändern sich, wenn man Hochsensibilität anhand biologischer Merkmale definiert und diese an Personen misst. Wieder andere Zahlen erhält man, wenn man Hochsensitivität anhand von beobachtetem „typisch sensiblem“ Verhalten definiert und dieses mittels Selbstauskunft durch Fragebögen erfasst. Denn auch Personen, die nicht im physiologischen Sinne neurosensitiv sind, können sich aufgrund anderer Ursachen und Merkmale wie eine hochsensitive Person verhalten. Auch spielt die Formulierung der Fragen und wie diese verstanden werden eine große Rolle. Es ist also wie immer sinnvoll, die Zahlen in ihrem Kontext zu sehen und zu verstehen, wie sie zustande gekommen sind.

 

11. GESCHLECHTERUNTERSCHIEDE BEI HOCHSENSIBLEN

Hochsensibilität ist bei allen Geschlechtern gleich häufig anzutreffen und auch die Hauptmerkmale sind identisch. Das soziale Umfeld reagiert aber auf dieses Temperamentsmerkmal sehr unterschiedlich. Manche der typischen Eigenschaften können traditionell je nach Geschlecht sozial sehr erwünscht oder unerwünscht sein. 
Bei Männern gelten traditionell Unempfindlichkeit, Extraversion und Durchsetzungskraft als maskuline Tugenden. Da hochsensible Jungen im Allgemeinen weniger Interesse an körperlichem Kräftemessen und Auseinandersetzung haben, wird vielleicht der Versuch unternommen, ihnen die Sensitivität erzieherisch auszutreiben. Eltern sorgen sich möglicherweise, sie könnten im Leben nicht bestehen, wenn sie sich nicht zu behaupten lernen. Die Sensitivität wird hier als hinderlich und darum als bedrohlich angesehen. 
Bei Mädchen sind Introversion und Zurückhaltung traditionell eher sozial erwünscht. Dafür machen sie vielleicht mehr die Erfahrung, dass ihre Autonomiebestrebungen unterdrückt werden. Sie werden stattdessen auf brav und angepasst getrimmt. Oder, falls die Introversion sehr stark ausgeprägt ist, kann sich das Umfeld in unangenehmer Weise aufdrängen und dabei falsche Botschaften aussenden. „Lach doch mal!“ oder „Sag doch mal was!“ sind hier vielzitierte Beispiele.
Das mag sich aktuell allmählich ändern, was sehr erfreulich ist. Es werden aber sicherlich genügend Frauen jenseits der 30 ihre persönlichen Erfahrungen darin beschrieben sehen. 
Für Menschen mit diverser Geschlechtsausprägung sind Diskriminierungserfahrungen schon fast fester Bestandteil ihrer Identitätsfindung. Sind sie dazu noch hochsensibel, werden die damit einhergehenden Gefühle der Nichtpassung und dadurch ihr Stresserleben und ihre Anfälligkeit für psychische Störungen verstärkt. 
Die Reaktionen der Umwelt auf die Hochsensibilität durch die Lebensspannen hindurch, können im Erwachsenenalter das positive Selbstbild sehr beeinträchtigen und HSP dauerhaft das Gefühl geben, „anders“ und „nicht richtig“ zu sein. Viele versuchen deshalb, im Alltag oft ihr Temperament zu unterdrücken und arbeiten sich daran ab anstatt es anzunehmen, konstruktiv mit ihm umzugehen und die vielen Vorzüge für sich zu nutzen und zu genießen.

 

12. EXTRAVERSION UND SENSATION SEEKING

Viele Hochsensible bewegen sich in ihrem Auftreten vielleicht nah am Stereotyp. Aber natürlich definieren sich Menschen nicht nur über den Ausprägungsgrad ihrer Sensitivität. Auch andere Persönlichkeitsmerkmale sowie die Erfahrungen und Prägungen unseres Lebens machen uns zu einem einzigartigen Individuum. Manche dieser Einflüsse können das Erscheinungsbild der Hochsensibilität so stark verändern, dass diese für eine Person sogar bei sich selbst kaum zu erkennen ist.

Ein in diesem Zusammenhang von Elaine Aron immer wieder angeführtes wichtiges Konstrukt ist Sensation Seeking. Es beschreibt, in welchem Maße Menschen neue Reize zur persönlichen Anregung benötigen, um welche Art von Reizen es sich dabei handelt und was die Menschen bis hin zur Risikobereitschaft antreibt, sich diese Reize zu verschaffen. Erforscht wurde es von Marvin Zuckermann (1964). 
Während für Hochsensible normalerweise ein eher abwartendes Reflektieren (pause-to-check) charakteristisch ist, so sehr brauchen sie auch Inspiration für ihren neugierigen und umtriebigen Geist. Ein hoher Grad an Sensation Seeking kann Geschäftigkeit bis hin zur getriebenen Agitiertheit in ihnen auslösen und sie auch zu potentiell gefährlichen Freizeitbetätigungen bewegen. Einerseits haben sie das starke Bedürfnis nach Ruhe und innerer Ordnung, andererseits wenden sie sich immer wieder neuen Betätigungsfeldern zu, weil sie geistige oder körperliche Anregung und Abwechslung brauchen, dadurch dann aber auch unter Stress geraten können. Elaine Aron nennt dies ein Leben mit one foot on the gas and one on the brake (deutsch: einem Fuß auf dem Gaspedal und einem auf der Bremse). Stark ausgeprägtes Sensation Seeking wird High Sensation Seeking genannt. Personen, die dieses Merkmal aufweisen nennt man High Sensation Seeker. Sie werden HSS abgekürzt. Innerhalb der Gruppe der HSP wird die Häufigkeit der HSS auf ca. 30% geschätzt. Es ist bei Männern und Frauen, sowie bei introvertierten und extravertierten Personen gleichermaßen vertreten.

Auch Extraversion lässt Hochsensibilität anders erscheinen als das Klischee nahelegt. Geschätzte 70% der Hochsensiblen gelten als introvertiert und 30% als extravertiert. Extravertierte Hochsensible projizieren mehr Energie in ihre Umgebung und orientieren sich im Erleben auch mehr an der Außenwelt. Es fällt ihnen leichter, sich in Gesellschaften einzupassen und ihre Sensitivität zu verbergen, wenn sie es wollen oder müssen; auch vor sich selbst! Die Hauptcharakteristika sind bei ihnen aber genauso anzutreffen wie bei introvertierten HSP.

Extravertierte HSP mit wenigstens mittelgradigem Sensation Seeking, vielleicht ohne nennenswerte Probleme im Alltag und mit guten Strategien zur Selbstregulation, können sich kaum mit den auf Introversion und Zurückgezogenheit reduzierten Beschreibungen von Hochsensitivität identifizieren. Menschen mit diesen Temperamentseigenschaften sind sehr selten und kommen nur mit einer Häufigkeit von ca. 1,7% vor.

 

13. IST HOCHSENSIBILITÄT EINE KRANKHEIT ODER STÖRUNG?

Ob Hochsensibilität als Krankheit anzusehen ist, beantwortet sich durch die vielen Vorteile und angenehmen Aspekte der Hochsensitivität für mich mit einem eindeutigen Nein. Elaine Aron argumentiert aber auch evolutionsbiologisch. Wenn SPS eine Krankheit wäre, käme sie nicht in dieser Häufigkeit in der Natur vor, sondern wäre entweder längst durch natürliche Selektion aussortiert worden, oder würde sich wie die meisten psychischen Störungen im einstelligen Prozentbereich bewegen. Dass Hochsensitivität also bei so vielen Spezies und in dieser Häufigkeit auftritt, spricht dafür, dass es sich um ein evolutionäres Erfolgsmodell und nicht um etwas Pathologisches handelt.

Gleichwohl gibt es mögliche Nebeneffekte im Zusammenhang mit der Hochsensibilität, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, dass eine hochsensible Person eine Krankheit oder Störung ausbildet. Beispielhaft sei hier das Diathese-Stress-Modell (auch: Vulnerabilitäts-Stress-Modell) angeführt. Dieses besagt, dass eine genetische Veranlagung zu einer psychischen Störung alleine noch nicht zur tatsächlichen Krankheit führen muss. In der Regel erst, wenn im Leben einer Person starker Stress und Traumata hinzukommen, wird das Gen und damit die Störung aktiviert. Da die intensivierte Wahrnehmung auch das Stresserleben steigert, haben Hochsensible demnach bei entsprechender genetischer Veranlagung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, eine Störung auszubilden, wenn sie im Leben Missbrauch, Mobbing, Schicksalsschlägen und anderen belastenden Ereignissen ausgesetzt waren oder sind. Die Hochsensibilität ist aber hier nicht die Ursache, sondern nur ein begünstigender Faktor. Dabei können natürlich auch die Anzeichen der Hochsensibilität der Anlass für Übergriffe in der Erziehung und Diskriminierung oder Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz sein. Treten im Zuge dessen Störungen wie Depressionen oder Ängste auf, liegt das nicht ursächlich an der Sensibilität, sondern am Verhalten der übergriffigen Personen.

 

14. WIE ZEIGT SICH ÜBERSTIMULIERTHEIT?

Je nach Temperament können Menschen auf einwirkende Reize und Ereignisse individuell sehr unterschiedlich reagieren. Während sich z.B. Müdigkeit bei den meisten Menschen in allmählicher und gleichmäßiger Verlangsamung der geistigen und körperlichen Funktionen zeigt, kann bei anderen eine Art kompensatorischer Agitation auftreten, die sich zunächst in psychomotorischer Hyperaktivität und Überdrehtheit äußert. Sogar gesteigerte Leistung im Rahmen eines Hyperfokus kann hier kurzzeitig auftreten, bevor das Runterfahren dann abrupt erfolgt. So verschieden, wie sich Müdigkeit zeigen kann, so individuell sind auch die Anzeichen von Überstimuliertheit.

Sie kann sich in bestimmten und durchaus gegensätzlichen Stimmungen, wie Gereiztheit oder Weinerlichkeit, niederschlagen. Manche Hochsensible gehen in einen inneren Rückzug, der sie verstummen lässt und bei dem sie sich nur noch die Flucht in eine reizarme vertraute Umgebung wünschen. Oft lässt die Konzentration nach und es können Wortfindungsstörungen auftreten. Viele beschreiben eine sensorische Überreizung, bei der besonders bestimme Geräusche, Lichtintensitäten oder Berührungen stark aversiv erlebt werden. Auch von Schwindelgefühlen bis zu Ohnmachtsanfällen, Gereiztheiten der Haut oder dem Auftreten von Kopfschmerzen bis hin zu Migränen ist die Rede. Einige Hochsensible mögen zur Beschreibung des allgemeinen Gefühls von Bedröhntsein im Kopf und im restlichen Körper das von mir erfundene Adjektiv neuroverkatert. 

Aufgrund der Heftigkeit einiger der Äußerungen sollte die medizinische Unbedenklichkeit auf jeden Fall ärztlich abgeklärt werden. Bei negativem Befund kann aber danach, auch bei regelmäßig auftretenden Zuständen von Überstimuliertheit, diese als ein zwar lästiger bis sicherlich sehr unangenehmer, aber an sich harmloser Ausdruck der Hochsensitivität erwogen werden.

Auch die Dauer der Erholungsphasen kann sehr unterschiedlich sein und von Minuten, über Stunden bis hin zu Tagen dauern. Das hängt sicherlich auch von der momentanen Verfassung der Person, aber auch von der Art und den Umständen der Situation ab. Ein Vormittag in der Schule fühlt sich nach einem erholsamen Wochenende wahrscheinlich anders an, als am Ende der Schulwoche, und kurz nach den Ferien anders, als kurz davor. Ein Einkauf in einem belebten Geschäft erfordert vielleicht anschließend eine Stunde Ruhe auf der Couch, ein Geschäftsmeeting zehn Minuten Meditation im Auto auf dem Parkplatz, oder umgekehrt. Eine lange Partynacht fühlt man vielleicht noch Tage später im Körper dröhnen, auch wenn sie schön war. So individuell wie die Menschen, ist auch ihr Stresserleben und ihre Bewältigungsstrategien.

 

15. FÜNF WICHTIGE DINGE FÜR HSP: „FIVE TO THRIVE“

Elaine Aron benennt in ihren Vorträgen und Seminaren fünf Dinge, die für das Wohlbefinden und persönliche Gedeihen von Hochsensiblen essenziell sind.

1. Verstehen, dass Hochsensibilität eine Realität ist! Das ist wichtig, da HSP in einem sozialen Umfeld leben, welches das Konstrukt oft abtut und für die Befindlichkeiten der Hochsensiblen wenig Verständnis zeigt. Die Selbstfürsorge gebietet es aber, dass Hochsensible ihre Bedürfnisse ernst nehmen, trotz des Gegenwindes und der möglichen Kritik hinter diesen stehen und sich gut um sich selbst kümmern.

2. Den Lebensstil ändern! Die Nervensysteme hochsensibler Menschen funktionieren etwas anders, als die anderer Menschen und das bringt besondere Erfordernisse mit sich. Sie müssen darauf achten, das allgemeine Stressniveau im Alltag niedrig zu halten und sich die nötigen Freiräume und Ruheräume zu verschaffen, um das Erregungsniveau herunterzupegeln. Spaziergänge und Meditationen helfen vielen HSP. Aber auch Tätigkeiten wie Hausarbeit können sie in einen entspannten Flow bringen. Auch nein zu sagen, ist eine wichtige Fähigkeit, in der sich gutmütige HSP üben sollten, damit sie nicht mit immer mehr Aufgaben konfrontiert und dadurch in Zustände von Überforderung und chronische Erschöpfung getrieben werden.

3. Die eigene Biographie neu bewerten! Menschen versuchen, zu einer für sie selbst stimmigen Vorstellung der eigenen Identität zu kommen. Wir ziehen Schlüsse über uns selbst, um uns unser eigenes Erleben plausibel zu erklären. So entsteht nach und nach ein so genanntes Selbstkonzept. Wissen, über das wir aber nicht verfügen, können wir auch nicht in unser Selbstkonzept integrieren. Auch andere Menschen teilen uns ihre Schlüsse über uns mit und bewerten uns auf der Grundlage ihrer Kenntnisse. Deren Botschaften beeinflussen unser Selbstbild ebenfalls, und manchmal mehr als unsere eigenen Wahrnehmungen. Da vielen Hochsensiblen oft mit Unverständnis begegnet wird, können sich auch bei jungen Menschen schon eine Menge negativer Botschaften angesammelt haben.

Nach der Begegnung mit dem Konstrukt Hochsensibilität sollten HSP darum ihre Glaubenssätze und ihr Selbstkonzept gründlich überarbeiten und ihr Leben neu bewerten. Aus „In der Schule habe ich versagt und war zu blöd zum Lernen!“ könnte zum Beispiel werden: „Ich befand mich in einem Zustand chronischer Überstimuliertheit. Unter anderen Bedingungen hätte ich mich vielleicht gut konzentrieren und gut lernen können.“

4. Alte Wunden heilen! Es ist für alle Menschen wichtig, eine leidvolle Vergangenheit aufzuarbeiten. Für Hochsensible gilt das besonders, da wahrscheinlich ein großer Teil des Leids in einem indirekten Zusammenhang mit der Hochsensibilität steht. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Hochsensibilität das Erleben von Stressoren verstärkt, oder Hochsensible in vulnerablen Momenten zum Ziel von Spott, Diskriminierung und übergriffigen (Um-)Erziehungsversuchen werden.

5. Andere Hochsensible treffen! Hochsensible sind in der Gesellschaft meist häufiger anzutreffen, als vermutet. Trotzdem gibt es viele, welche dieses Trait bei sich entweder nicht erkannt haben, oder es nicht für irgendwie relevant erachten. Sie sind unter Umständen gut angepasst und erfolgreich in Schule und Beruf, glänzen mit ihren Talenten und möchten ungern mit einem Konstrukt in Verbindung gebracht werden, welches ihre persönlichen Leistungen und Talente entindividualisiert oder sie in die Nähe von etwas Pathologischem bringt. Hochsensible mit Kontaktwunsch haben darum oft das Gefühl, sie seien auf weiter Flur die einzigen HSP. Andere zu treffen, die sind „wie sie“, ist unglaublich heilsam und beglückend. Natürlich sind die individuellen Unterschiede zwischen HSP ebenso vorhanden. Manche nehmen an, sie seien sogar größer als bei normalsensitiven Menschen. Dennoch spüren viele dieses verbindende Element und genießen die entspannte und von Respekt und gegenseitiger Fürsorge geprägte Atmosphäre und die wohltuende Anwesenheit der anderen. Ich kann dies aus persönlicher Erfahrung nur bekräftigen und empfehlen, sich nach offenen Stammtischen, Gruppen und Treffpunkten zu erkundigen und diese zu besuchen.

 

16. ÜBERSCHNEIDUNG VON HOCHSENSIBILITÄT MIT SYNÄSTHESIE UND HOCHBEGABUNG

Die Eigenschaften, die hochsensiblen Personen typischerweise zugeschrieben werden, finden sich in ähnlicher Form auch in den Beschreibungen von anderen Personengruppen, wie z.B. Menschen mit Synästhesie oder mit Hochbegabung. Die Überschneidungen sind derart auffällig, dass einige Expert:innen davon ausgehen, dass es sich dabei um dasselbe Phänomen handelt. 

Synästhesie ist ein neurophysiologisches Phänomen, bei dem im Gehirn Sinnesmodalitäten verbunden sind, die bei den meisten Menschen nicht verknüpft sind. Da die Arbeit mit Synästhet:innen auch einer meiner Tätigkeitsschwerpunkte ist, gibt es auf dieser Webseite einen eigenen Bereich dazu, weshalb ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehe. Allen am Thema «Hochsensibilität» Interessierten lege ich diese Seite ausdrücklich ebenfalls nahe.

Die klassische Definition von Hochbegabung ist ein in einem IQ-Test gemessener Wert von mindestens 130 IQ-Punkten. Das gilt für 2% bis 3% der Menschen. Da die Häufigkeit von Hochsensitivität mit mindestens 15% deutlich darüber liegt, ist es unmöglich, dass nach dieser Definition alle hochsensitiven Personen auch hochbegabt sind. Umgekehrt nehmen aber viele kundige Personen an, dass zumindest der Großteil der Hochbegabten auch hochsensibel ist.

Weiterhin bezieht sich die Definition von Hochbegabung vor allem auf kognitive Fähigkeiten im Bereich Sprache, Naturwissenschaften, Mathematik und Logik. Es gibt aber inzwischen zahlreiche Forschungsprojekte, welche den Begriff auch über kognitive Leistungen hinaus auf andere außergewöhnliche Fähigkeiten erweitern möchten. Warum sollte der Begriff nicht auf künstlerisch-kreative und emotional-empathische Fähigkeiten ausgeweitet werden? Jemand, der sich durch große Empathie und emotionale Intelligenz gut in andere Personen einfühlen und ihnen in besonderer Weise bei der Lösung persönlicher Probleme helfen kann, könnte sich dann in die Definition von Hochbegabung eingeschlossen fühlen. Auch gibt es Befürworter dafür, auch Menschen mit IQ-Werten von weniger als 130 IQ-Punkten als hochbegabt anzusehen, wenn diese über andere für Hochbegabte besonders charakteristische Eigenschaften verfügen. Die Gesamtzahl der Menschen würde sich dann naturgemäß nach oben verändern.

Wie diese drei Konstrukte letztlich zusammenhängen, ist noch nicht abschließend geklärt. Wer aber auf der Suche nach sich selbst ist, sich aber in dem Konstrukt Hochsensibilität noch nicht ausreichend wiedererkennt, dem sei ein vertiefter Blick auf die Themen Synästhesie oder Hochbegabung empfohlen.

 

17. HOCHSENSIBILITÄT UND BERUF

Das Thema Beruf und Karriere ist für Hochsensible außerordentlich wichtig. Immer wieder tauchen in Online-Gruppen HSP auf, die unter der Situation an ihrem Arbeitsplatz leiden. Die Ursachen können vielfältig sein. Oft genannt werden stressige Arbeitszeiten mit kräftezehrendem Schichtdienst oder übertrieben vielen Überstunden, eine überstimulierende Arbeitsatmosphäre mit zu intensiver Geräuschkulisse oder schlechten Lichtverhältnissen oder emotional schwer erträgliche Situationen durch lästernde Kolleg:innen oder unwirsche Vorgesetzte. 

Oft stellen diese HSP die Frage nach für Hochsensible geeigneten Berufsfelder, da sie eine berufliche Umorientierung anstreben. Elaine Aron beantwortet die Frage sinngemäß damit, dass HSP grundsätzlich jeden Beruf ergreifen können, es aber sehr wichtig ist, dass sie diese Tätigkeit auf ihre eigene Weise tun können. Verständnisvolle und wertschätzende Vorgesetzte sind also ein wichtiger Faktor. Ebenso ist die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns für HSP sehr entscheidend.

Typische Berufsfelder sind jedoch sicherlich kreative, lehrende und beratende Berufe. HSP mit Affinität zu Zahlen und Tabellen finden sich auch in Buchhaltungen, Rechnungsabteilungen oder in der Steuerberatung. Manche Berufsfelder ziehen HSP zwar zunächst inhaltlich sehr an, der Alltag darin überfordert sie jedoch oft. Das gilt z.B. für pflegende Berufe, Tätigkeiten in Schule und Kita oder auch den Anwaltsberuf. 

Viele Hochsensible sind selbst wenig kompetitiv und machen in der Regel einen Bogen um Führungspositionen. Gleichwohl sind sie oft als Künstler:innen, freiberuflich oder als Kleinunternehmer:innen tätig, wenn sie eine eigene gute Geschäftsidee hatten. Ohne Vorgesetzte können sie ihre Arbeitszeiten und ihr Umfeld frei nach den Bedürfnissen und Erfordernissen ihres Temperamentes gestalten. Das ist für viele wichtiger, als ein regelmäßiges, gesichertes Einkommen.

 

18. WARUM VORGESETZTE VON HOCHSENSITIVITÄT WISSEN SOLLTEN

Hochsensible bringen am Arbeitsplatz ihre besonderen Qualitäten und Fähigkeiten ein. Sie überzeugen dabei mit Überblick, vernetztem und multiperspektivischem Denken, einer großen Sorgfalt bei der Erledigung ihrer Aufgaben, Kreativität bei der Gestaltung neuer Projekte oder von effizienten Arbeitsabläufen. Ihr Gerechtigkeitssinn und ihr Mitgefühl machen sie zu Teamplayern, die das Wohl der Kolleginnen und Kollegen und ein gutes Betriebsklima im Blick haben werden. Wenn sie vom Sinn ihrer Tätigkeit überzeugt sind, werden sie eine hohe intrinsische Motivation zeigen.

Gleichwohl werden sie im Allgemeinen von belastenden Faktoren möglicherweise auch stärker belastet, sei es eine irritierende Geräuschkulisse durch Lüftungen, Kaffeemaschinen, Kopierer oder dem Stimmengewirr in Großraumbüros. Auch Lichtverhältnisse, Gerüche und Temperaturen werden sie vielleicht mehr beschäftigen, als die anderen Anwesenden. Die Dinge, die sie irritieren, belasten jedoch in der Regel auch die anderen, nur dass es von ihnen erst später bemerkt wird oder die eigenen Gereiztheiten gar nicht auf diese Reize zurückgeführt werden. Hochsensible sind also hier eine Art Frühwarnsystem und Vorgesetzte, die ihre Befindlichkeiten ernst nehmen und für Abhilfe sorgen, steigern in der Regel das Wohlbefinden und dadurch auch die Produktivität des ganzen Teams. Auch an dieser Stelle gilt, dass Hochsensibilität ein Gesamtpaket ist und wer die Vorteile nutzen möchte, wird auch Nachteile als Beifang beikommen. Vorgesetzte, die dafür ein offenes Ohr haben können deren Auswirkungen aber durch einfache Anpassungen leicht minimieren. Nicht nur die HSP, sondern in der Regel die ganze Belegschaft wird davon profitieren.

 

19. WARUM ELTERN VON HOCHSENSIBILITÄT WISSEN SOLLTEN

Eltern wollen für ihre Kinder normalerweise das Beste. Sie wollen sie aufwachsen und gedeihen sehen und sie darin unterstützen, sich ein glückliches und erfolgreiches Leben aufzubauen. Dazu gestalten und begleiten sie deren Entwicklung durch die Alters- und Entwicklungsstufen hindurch. Kommt es dabei zu Schwierigkeiten im sozialen Umfeld oder bei der Bewältigung von Aufgaben, versuchen Eltern ihren Kindern über diese hinwegzuhelfen. Bei der Bewertung von Menschen und Situationen geht man in der Regel von den eigenen Erfahrungen aus und bietet somit Lösungswege an, die für einen selbst funktionieren. Das geschieht auf Grundlage der eigenen Annahmen über die Funktionsweisen der Institution (z.B. Schule), der jeweiligen Aufgabe und die Wahrnehmung und das Erleben der anderen Person, in diesem Fall das Kind. Wenn zwischen diesen Annahmen und der tatsächlichen Situation eine große Differenz besteht, kommt es zu Missverständnissen. Da bei Hochsensiblen viele Dinge ein wenig anders funktionieren als bei normalsensiblen Personen, sind die Quellen für mögliche Fehlinterpretationen zahlreich. 

Ist zum Beispiel die Lernstrategie eines Kindes stark von pause-to-check beeinflusst, dann können Ratschläge wie „Mach doch einfach mal! Die anderen Kinder machen das doch auch und Du siehst doch, dass ihnen nichts passiert?!“ sehr gut gemeint sein, aber einen sehr starken Druck auf das Kind ausüben. Dabei wird es die implizite Botschaft „Du bist anders, als die anderen und zwar schlechter!“ vermittelt. Solche Botschaften können sich über die Jahre immer weiter ansammeln und verselbständigen.

Auch, wenn aus Schule oder Kindergarten negative Rückmeldungen über Leistungen oder ungewöhnliches und auffälliges Verhalten kommen, können stressige Situationen für alle Beteiligten entstehen. Wenn die Ursache dafür vielleicht sensorische oder emotionale Überstimuliertheiten sind, werden erzieherische Maßnahmen, die auf Verhaltensänderungen abzielen nur bedingt hilfreich sein. „Reiß Dich mal zusammen!“ hilft dann ebenso wenig weiter, wie Schelte und Strafen. Das Kind sieht nur die Differenz zu den anderen Kindern und spürt nur die eigene Ohnmacht, so zu sein wie die anderen. 

Auch zuhause gibt es Missverständnisse, wenn das Badewasser zu heiß ist, die Stoffe der Kleidung zu rau, die Schuhe drücken, bestimmte Nahrungsmittel unerträglich schmecken und Fingernägel schneiden zu weh tut. „Stell Dich nicht so an!“ ist vielleicht die unter HSP am häufigsten zitierte negative Erziehungsbotschaft, die sie sich in ihrer Kindheit anhören mussten und mit der man ihrem Selbstwertgefühl bis ins Erwachsenenalter enorm zugesetzt hat. 

Besonders wenn keines der Elternteile selbst hochsensibel ist, ist es umso wichtiger, dass sie von dem Konstrukt erfahren, so ihr Kind besser verstehen lernen und es besser unterstützen können.

 

20. WARUM PERSONEN IN HEILBERUFEN VON HOCHSENSITIVITÄT WISSEN SOLLTEN

Die eigene Besorgnis oder die nahestehender Bezugspersonen lässt Hochsensible überdurchschnittlich häufig professionelle Hilfe aufsuchen. In ihrem Buch Psychotherapy and the Highly Sensitive Person (deutsch: Hochsensible Menschen in der Psychotherapie, 2010, Routledge) nennt Elaine Aron hochsensible Menschen im Untertitel a minority of people who are the majority of clients (deutsch: eine Minderheit von Menschen, welche die Mehrheit der Klienten bildet). Im weiteren Text des Buches geht Aron davon aus, dass ca. 20% der Menschen hochsensibel sind, gleichwohl aber ca. 50% der Klient:innen in psychotherapeutischen Praxen stellen. Da auch positive Reize durch die Hochsensibilität verstärkt werden, profitieren HSP laut Aron mehr von Selbsthilfeliteratur und sprechen auf therapeutische Interventionen besser an. 

Im professionellen medizinischen und psychologischen Kontext ist das Konstrukt Hochsensitivität umstritten. Viele Fachleute kennen es gar nicht oder vermuten dahinter ein Lifestyle-Phänomen. Da vieles daran wissenschaftlich noch ungeklärt ist, halten andere es für nicht ausreichend valide oder für generell überflüssig, da ihrer Meinung nach die Befindlichkeit der vulnerabel sensitiven Personen durch bereits vorhandene Konstrukte, wie z.B. Neurotizismus, ausreichend erklärt wird. Das liegt auch daran, dass gesteigerte Sensibilität und häufiges Auftreten von Überstimuliertheit bei Menschen viele verschiedene Ursachen haben kann, von denen einige tatsächliche psychiatrische Störungsbilder sind. Umgekehrt wäre es ja auch hoch problematisch, wenn jemand bei sich selbst von einer Hochsensitivität ausgeht, während das Erlebte tatsächlich Ausdruck einer dringend behandlungsbedürftigen psychischen Störung ist. Das befürchtete gesellschaftliche Stigma bewirkt vielleicht, dass sich betroffene Personen aus Angst vor einer handfesten Diagnose nicht professionell untersuchen lassen und dadurch vielleicht nicht die Hilfe bekommen, die sie dringend benötigen; mit ggf. schwerwiegenden Folgen für sie selbst aber auch für Personen in ihrem engen Umfeld. 

Sorgfältige Differentialdiagnosen, die klar zwischen Störungsbildern und den Auswirkungen von Hochsensibilität unterscheiden, sind also extrem wichtig. Von einer Differentialdiagnose spricht man, wenn eine Verdachtsdiagnose vorliegt, die Symptome aber auch Ausdruck anderer Störungen oder Effekte sein könnten. Solche Überschneidungen sind sehr häufig. Die anderen möglichen Ursachen müssen dann ausgeschlossen werden, damit sich die Verdachtsdiagnose bestätigen kann. Im Falle von Hochsensibilität geht das natürlich nur, wenn man mit dem Konstrukt grundsätzlich vertraut ist. Aus diesem Grund hat Elaine Aron in Psychotherapy and the Highly Sensitive Person der Differentialdiagnose ein langes Kapitel gewidmet, in welchem sie ausführlich beschreibt, wie man Hochsensitivität von verschiedenen psychischen Störungen unterscheidet. 

Weiterhin können Menschen mit einer stark vulnerablen Ausprägung der Hochsensibilität unter ungünstigen Lebensumständen durchaus einen krankheitswertigen Leidensdruck entwickeln. Widrige und traumatisierende Lebensumstände oder Erfahrungen, besonders in Kindheit und Jugend, sind ja gerade die Ursache für die vulnerable Ausprägung der Hochsensibilität. Dies kann in der Folge auch dazu führen, dass die Ausbildung einer tatsächlichen psychischen Störung begünstigt wird (Diathese-Stress-Modell/Vulnerabilitäts-Stress-Modell). Die Hochsensitivität ist dann aber weder die Krankheit noch die Ursache. Da sie aber das Erleben von Wahrnehmungen und Gefühlen intensiviert, ist sie ein möglicher verstärkender Faktor. 

Elaine Aron berichtet weiterhin von einer möglicherweise erhöhten Schmerzempfindlichkeit und einer gesteigerten Sensitivität in Bezug auf Medikamente, deren Dosierungen ggf. angepasst werden müssen. Mediziner:innen sollten sich dessen bewusst sein und die Hinweise ihrer Patient:innen ernst nehmen.

 

21. WARUM PÄDAGOG:INNEN UND LEHRPERSONEN VON HOCHSENSITIVITÄT WISSEN SOLLTEN

Kindergärten und Schulen sollten für Kinder Orte des Spiels, des Lernens und des persönlichen Wachstums sein. Das sind sie auch in der Regel. Zugleich können sie aber für hochsensible Kinder eine Quelle konstanter Überstimuliertheit sein. Für einige besonders Anfällige kann sich der Aufenthalt dort zu einer echten Tortur entwickeln. Die Klassenzimmer sind oft vollgestellt und die Wände behangen mit zahlreichen kleinteiligen Dingen. Mit den Ergebnissen des Kunstunterrichtes werden auch Fenster jahreszeitlich passend beklebt oder sogar Leinen bestückt, die unter der Decke quer durch das Klassenzimmer gespannt sind. Jedes dieser Dinge ist für sich genommen liebenswert, erwünscht oder sogar erforderlich. In der Summe stellen diese aber eine Dauerstimulation dar, der sich die Kinder nicht entziehen können. Das Auge findet keine Ruhe, egal wohin der Blick gerichtet wird. Dazu kommen Gerüche und eine dauernde Geräuschkulisse. Ich finde es nicht überraschend, dass hochsensible Kinder hier schnell in Zustände von Überstimuliertheit geraten und es mit ihrer Konzentration nach kurzer Zeit steil bergab geht, egal ob sich dies in psychomotorischer Agitation, in emotionalen Ausbrüchen oder schlicht in kognitiver Überforderung niederschlägt. 
Eine Pause, die ihnen eigentlich Entspannung und Regeneration verschaffen soll, bewirkt angesichts des normalen Geschehens auf einem Schulhof das Gegenteil. Während sich viele Kinder nach dem langen Sitzen und der notwendigen Selbstregulation über die Möglichkeit zur freien Bewegung und zum enthemmten Spielen freuen, geht die Reizüberflutung für die jungen HSP weiter und treibt sie vielleicht geradewegs in die Überstimuliertheit. Diese kann ggf. lange anhalten und bis in den Nachmittag hinein ihre Fähigkeiten beeinträchtigen, konzentriert Hausaufgaben zu machen. Die Chancen stünden ansonsten gut, dass sie diese angesichts der Überschneidungen von Hochsensibilität und Hochbegabung leidenschaftlich gerne erledigen würden und dabei leicht in Flow-Zustände kämen, in denen sie begeistert, interessiert und intrinsisch hoch motiviert freiwillig sogar mehr machen würden, als gefordert. Einen lauten Wohnort kann eine erwachsene hochsensible Person selbstbestimmt durch einen Umzug gegen einen ruhigeren tauschen, eine Arbeitsstelle vllt. auch oder man kann die Zahl der Arbeitsstunden reduzieren. Ein Schulwechsel würde jedoch nicht viel bewirken, da sich die Schulen in dieser Eigenschaft ohnehin sehr ähneln. Zwar habe ich Erfahrungen mit den Lernumgebungen vor allem an Grundschulen gemacht und dort im direkten Kontakt schon viele Lehrerinnen beraten. Aus meinem nahen Umfeld kenne ich auch Leidensgeschichten von HSP an weiterführenden Schulen und diese sind hier ausdrücklich impliziert. Ich verweise an dieser Stelle ausdrücklich auf den Menüpunkt zur Synästhesie auf dieser Webseite, wo es einen Abschnitt über mögliche besondere Lernschwierigkeiten von Synästhet:innen gibt, der für Eltern, Lehrpersonen und Betroffene von Interesse sein kann.

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